22.11.2017

Meldung, Steuerrecht

EuGH zum Missbrauch in Mehrwertsteuersachen

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Das Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich ist unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in den Mitgliedstaaten anwendbar. Es handelt sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der keine nationale Umsetzungsmaßnahme erfordert.

Herr Cussens, Herr Jennings und Herr Kingston waren Miteigentümer eines Projektstandorts in Irland, auf dem sie 15 Ferienwohnungen errichteten, die verkauft werden sollten. Vor dem Verkauf tätigten sie 2002 mehrere Geschäfte mit einer mit ihnen verbundenen Gesellschaft, der Shamrock Estates. Am 08.03.2002 schlossen sie mit dieser Gesellschaft zwei Mietverträge, und zwar einen Mietvertrag, mit dem sie ihr diese Immobilien für einen Zeitraum von 20 Jahren und einem Monat ab diesem Zeitpunkt vermieteten („langfristiger Mietvertrag“), und einen Mietvertrag, mit dem Shamrock Estates diese Immobilien an die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete.

Steuerliche Gestaltung oder Missbrauch?

Am 03.04.2002 wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen Mieter beendet, so dass die Miteigentümer das volle Eigentum an den Immobilien wiedererlangten. Im Mai 2002 verkauften die Miteigentümer alle Immobilien an Dritte, die daran das volle Eigentum erwarben. Gemäß den irischen Mehrwertsteuervorschriften fiel auf diese Verkäufe keine Mehrwertsteuer an, da die Immobilien zuvor Gegenstand einer der Mehrwertsteuer unterliegenden ersten Lieferung im Rahmen des langfristigen Mietvertrags gewesen waren. Nur dieser unterlag der Mehrwertsteuer.

Nationales Gericht wendet EuGH-Rechtsprechung an

Mit Steuerbescheiden vom 27.08.2004 verlangte die irische Steuerverwaltung von den Miteigentümern die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer für die im Mai 2002 getätigten Immobilienverkäufe. Sie war nämlich der Auffassung, dass die langfristigen Mietverträge eine erste Lieferung darstellten, die künstlich konstruiert worden sei, um die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der späteren Verkäufe zu verhindern. Diese Lieferung sei daher für die Berechnung der Mehrwertsteuer nicht zu berücksichtigen. Die Miteigentümer erhoben gegen diese Entscheidung Klage. Der High Court Irland entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hätten, eine missbräuchliche Praxis im Sinne der sich aus dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Halifax ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er sich aus dieser Rechtsprechung ergebe, verlange, missbräuchliche Maßnahmen entsprechend der Realität umzuqualifizieren, auch wenn es keine nationalen Rechtsvorschriften gebe, die diesen Grundsatz umsetzten.

Ist Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken anwendbar?

Der mit einem Rechtsmittel befasste Supreme Court fragt den EuGH, ob dieser Grundsatz unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen. Außerdem fragt sich der Supreme Court, ob eine solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.

EuGH erläutert Sinn und Zweck des Grundsatzes

In seinem heutigen Urteil vom 22.11.2017 (C-251/16) stellt der EuGH zunächst fest, dass der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Mehrwertsteuerrichtlinie angewandt wurde, keine durch eine Richtlinie aufgestellte Regel darstellt. Vielmehr hat dieser Grundsatz seine Grundlage in einer ständigen Rechtsprechung, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen kann, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.

EuGH-Grundsatz hat allgemeinen Charakter und ist anwendbar

Der EuGH erklärt, dass diese Rechtsprechung in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts ergangen ist. Zudem erfolgt die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile unabhängig von der Frage, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben. Nach Ansicht des EuGH weist der fragliche Grundsatz somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Folglich kann er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen.

Grundsatz gilt auch für Altfälle

Schließlich bestätigt der EuGH, dass eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden. Der EuGH stellt hierzu fest, dass durch die Auslegung des Unionsrechts, die er vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss.

(EuGH, PM vom 22.11.2017 / Viola C. Didier)


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