29.10.2018

Interview

Reisezeit ist Arbeitszeit?!

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Der Betrieb

Das Bundesarbeitsgericht hat am 17.10.2018 entschieden, dass erforderliche Reisezeiten eines entsandten Arbeitnehmers ins Ausland wie Arbeit zu vergüten sind (PM Nr. 51/18 des BAG zu 5 AZR 553/17). Das kann für Arbeitgeber durchaus teuer werden. Eine erste Einordnung und Bewertung der Entscheidung geben die Rechtsanwältinnen Christine Libor und Corinna Schulz von der Kanzlei FPS in Düsseldorf.

DB: Die Entscheidung des BAG betraf die Reisezeiten eines vorübergehend nach China entsandten Arbeitnehmers. Schon die Vorinstanzen waren sich im Ergebnis uneinig. Worum ging es hier konkret?

Schulz: Hier ging es konkret um einen Mitarbeiter eines Bauunternehmens, der regelmäßig für längere Einsätze ins Ausland geschickt wurde. Bei dem hier streitigen Einsatz hatte er eine mehrtägige Reise nach China und zurück vorgenommen. Eine Besonderheit des Falles lag hier schon darin, dass er auf eigenen Wunsch einen Business-Class-Flug gebucht bekommen hatte, der aufgrund eines längeren Aufenthalts in Dubai deutlich länger dauerte als der Direktflug in der Economy-Class. Seine regelmäßige Arbeitszeit während der Reise wurde von dem Arbeitgeber anstandslos vergütet, darüber hinausgehende Reisezeiten aber nicht. Der Mitarbeiter forderte Vergütung für die darüber hinausgehenden Dienstreisezeiten von seinem Wohnort bis zum Arbeitsort und zurück.

Im Kern ging es rechtlich zunächst um die Anwendbarkeit des Tarifvertrags für die Angestellten und Poliere des Baugewerbes (RTV- Bau) bei Auslandsreisen sowie die Auslegung darin enthaltener Regelungen bzgl. Dienstreisen. Sollte dieser nicht einschlägig sein, stellt sich die allgemeine Frage der Vergütungspflicht bei fehlender individualvertraglicher Regelung nach § 612 BGB, ob also eine Vergütung in dieser Situation üblich ist. Da die Urteilsbegründung des BAG noch nicht vorliegt, wissen wir aber noch nicht, worauf das Gericht abstellt.

DB: Die Entscheidung des BAG hat insbesondere in der Tagespresse für viel Aufsehen gesorgt. Man liest z.B. unter dem Titel „Dienstreisezeit ist Arbeitszeit“ davon, dass die gesamte Reisezeit nun grundsätzlich auch über die tägliche Regelarbeitszeit hinaus zu vergüten ist. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Entscheidung nun wirklich ziehen?

Libor: So allgemeingültig, wie es hier zumindest anklingt, wird das Urteil mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu verstehen sein. Der hier entschiedene Sachverhalt beinhaltete einige Besonderheiten, von der Anwendbarkeit eines Tarifvertrags bei Tätigkeiten im Ausland bis zu Regelungen in einer Gesamtbetriebsvereinbarung, einzelvertraglichen Besonderheiten und einem urlaubsähnlichen Zwischenstopp des Klägers in Dubai. Es wäre durchaus möglich, dass das BAG die maßgebliche Anspruchsgrundlage in dem konkreten Tarifvertrag verortet hat und gerade nicht in § 612 BGB.  Eine allgemein gültige Aussage ließe sich hieraus dann nicht ohne Weiteres ziehen.

Das BAG hat außerdem lediglich geurteilt, dass  hier  Dienstreisezeiten „in der Regel“ als Arbeitszeiten zu vergüten sind. Regelfälle bedeuten auch Ausnahmemöglichkeiten.  Es bedeutet auch, dass weiterhin Entscheidungen im Einzelfall unter Zugrundelegung des gesamten Sachverhalts getroffen werden müssen. Wann die Ausnahmemöglichkeiten vorliegen und wie sie zu bestimmen sind, wird sich im Ergebnis nur mithilfe der Urteilsgründe bestimmen lassen. Aufgrund der vielgestaltigen Möglichkeiten von Dienstreisen und diversen Sachverhalts- und Vertragsgestaltungen werden außerdem wohl weitere Urteile Einzelheiten klarstellen müssen.

DB: Was bedeutet die Entscheidung nun für Arbeitgeber? Ist jegliche Dienstreisezeit als Arbeitszeit zu erfassen und zu vergüten bzw. Freizeitausgleich zu gewähren? 

Libor: Das BAG hat sich schon in der Vergangenheit häufiger mit diesem Thema auseinandergesetzt. Auch in früheren Urteilen wurde Dienstreisezeit, die über die regelmäßige vertragliche Arbeitszeit hinausging, unter gewissen Voraussetzungen für vergütungspflichtig gehalten. Rechtliche Grundlage und Ausgangspunkt vieler Diskussionen hierfür ist § 612 BGB. Soweit die geleistete Arbeitszeit über die vertraglich vereinbarte Zeit hinausgeht, muss sie vergütet werden, wenn dies „den Umständen nach zu erwarten“ wäre. Das führte auch in der Vergangenheit dazu, dass Dienstreisezeiten vergütungspflichtig sein konnten. Neu ist, dass  – vorbehaltlich der Urteilsbegründung – „in der Regel“ von einer Vergütungspflicht auszugehen sein kann. Musste man früher also konkret nachweisen und argumentieren, dass die Dienstreise vergütungspflichtig sein sollte, ist dies nun möglicherweise umgekehrt. Der Arbeitgeber kann aber dagegenhalten, indem er ausreichend darlegt, dass dies in dem konkreten Fall nicht gewollt war. Hier bleiben außerdem weitere Urteile zu dem Thema abzuwarten, die Einzelheiten klären müssen.

DB: Wie kann man in der Praxis derartige Streitigkeiten vermeiden? Sollten Vorgaben zu Reisezeiten in Betriebsvereinbarungen oder im Arbeitsvertrag festgelegt werden?

Schulz: Hier wäre zu empfehlen, entsprechende arbeitsvertragliche Regelungen oder sogar konkrete Regelungen durch Betriebsvereinbarungen zu schließen, sofern ein Betriebsrat existiert. Wie schon ausgeführt, dürfte Dreh- und Angelpunkt jeder Diskussion und rechtlicher Unwägbarkeiten die Regelung des § 612 BGB sein. Diese Norm bezieht sich im Kern auf einen Zustand fehlender ausdrücklicher Regelungen, der aber dennoch geregelt sein muss. Gibt es aber Regelungen, greift die Norm gar nicht erst ein und man hat Rechtssicherheit. Da es insbesondere im Bereich des Arbeitsvertragsrechts aber viele Besonderheiten – insbesondere in Hinblick auf umfangreiche Rechtsprechung zu AGB-Regelungen – zu beachten gibt, sollten entsprechende Vereinbarungen sehr sorgfältig und im besten Fall mithilfe anwaltlicher Beratung formuliert werden. Auf keinen Fall sollten sie irgendwo unter „Sonstiges“ versteckt werden, sondern müssen einfach zu finden und klar formuliert sein.

Vielen Dank für das Interview, Frau Libor und Frau Schulz!

Das Interview führte Claus Dettki, DER BETRIEB.


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