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18.05.2017

Interview

Mitbestimmungsgesetz: Können deutsche Unternehmen aufatmen?

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Der Betrieb

Das deutsche Mitbestimmungsgesetz ist mit dem Unionsrecht vereinbar. Dies hat der Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union, Henrik Saugmandsgaard Øe, in seinen Schlussanträgen zum Verfahren Erzberger / TUI AG klargestellt. Was dies für deutsche Unternehmen bedeutet, erklärt Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. Anja Lingscheid von der Kanzlei Norton Rose Fulbright im Interview.

DER BETRIEB: Frau Dr. Lingscheid, wie kam es überhaupt zu dem Verfahren?

Dr. Anja Lingscheid: „Das Verfahren geht zurück auf Herrn Konrad Erzberger, er arbeitet in einer Bank in Berlin und ist u.a. Kleinaktionär der TUI AG. Herr Erzberger ist der Auffassung, dass der Aufsichtsrat der TUI AG falsch besetzt ist. Der Aufsichtsrat setzt sich zusammen aus 20 Mitgliedern, von denen zehn die Anteilseigner und zehn die Arbeitnehmer vertreten. Die TUI-Gruppe beschäftigt außerhalb Deutschlands in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber fast 40.000 Arbeitnehmer, die die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nicht mitwählen durften. Das fehlende passive und aktive Wahlrecht der Arbeitnehmer im EU-Ausland verstößt nach Auffassung von Herrn Erzberger gegen EU-Recht und zwar gegen das Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit und das Recht auf der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit.

Herr Erzberger hat daher vor dem Landgericht Berlin ein Statusverfahren eingeleitet. Das können u.a. Aktionäre einleiten, wenn streitig ist, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist. Das Landgericht Berlin verneinte einen Verstoß der deutschen Mitbestimmungsregelungen gegen EU-Recht. Herr Erzberger legte dagegen Beschwerde beim Kammergericht Berlin ein, das die Frage in einem Vorabentscheidungsverfahren dem EuGH vorlegte.“

DER BETRIEB: Was bedeutet die Einschätzung des Generalanwalts für deutsche Unternehmen?

Dr. Anja Lingscheid: „Die deutschen Unternehmen können danach erstmal aufatmen. Denn der Generalanwalt hält das Mitbestimmungsgesetz in seinen Schlussanträgen vom 4. Mai 2017 für vereinbar mit EU-Recht. Dies bedeutet, dass alles so bleiben würde wie bisher. Die mitbestimmten Aufsichtsräte wären nicht falsch besetzt und auch der deutsche Gesetzgeber müsste nicht aktiv werden, um die deutschen Mitbestimmungsgesetze an das EU-Recht anzupassen.

DER BETRIEB: Ist das Problem damit bereits vom Tisch?

Dr. Anja Lingscheid: „Regelmäßig hält sich der EuGH in seiner Entscheidung an die Schlussanträge des jeweiligen Generalanwalts. Es gibt jedoch auch Ausreißer, da die Schlussanträge nicht bindend sind. Die Entscheidung des EuGH wird im Juli 2017 erwartet.“

DER BETRIEB: Sofern der EuGH – wider Erwarten – anders entscheidet: Was würde das für deutsche Unternehmen bedeuten?

Dr. Anja Lingscheid: „Käme der EuGH zu einer Unionsrechtswidrigkeit des Mitbestimmungsgesetzes würde das bedeuten, dass alle mitbestimmten Aufsichtsräte von Unternehmen in Deutschland falsch besetzt wären, jedenfalls dann wenn auch Arbeitnehmer im EU-Ausland beschäftigt werden. Die deutschen Mitbestimmungsregeln wären wegen des Verstoßes gegen EU-Recht unanwendbar. Die Unternehmen müssten die falsche Besetzung ihrer Aufsichtsräte unverzüglich bekanntmachen, ggf. sind gerichtliche Statusverfahren durchzuführen. Währenddessen blieben die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten zunächst weiterhin im Amt.“

DER BETRIEB: Das wäre auch ein großes Problem für den Gesetzgeber.

Dr. Anja Lingscheid: „Natürlich. Der deutsche Gesetzgeber müsste aktiv werden und Arbeitnehmer im EU-Ausland in die deutschen Mitbestimmungsgesetze einbeziehen. Dabei könnte es der deutsche Gesetzgeber aber nicht beim aktiven und passiven Wahlrecht belassen. Vielmehr müsste er in der Konsequenz letztlich auch regeln, dass z.B. die Arbeitnehmer von Konzernunternehmen im EU-Ausland auch für die Berechnung der Schwellenwerte zählen, die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der deutschen Mitbestimmung auf Unternehmensebene sind (mehr als 500 bzw. 2.000 regelmäßig beschäftigte Arbeitnehmer).

DER BETRIEB: Und was käme mit einer solchen Gesetzesänderung auf deutsche Unternehmen zu?

Dr. Anja Lingscheid: „Die infolge einer solchen Gesetzesänderung erforderlich Zurechnung der Arbeitnehmer von Tochtergesellschaften im EU-Ausland könnte für viele Unternehmen bedeuten, dass sie entweder erstmals einen mitbestimmten Aufsichtsrat einrichten müssen oder von der drittelparitätischen Mitbestimmung in die paritätische Mitbestimmung rutschen. Und auch bei Unternehmen, die bereits jetzt der paritätischen Mitbestimmung unterliegen, könnte aufgrund der höheren Arbeitnehmerzahl eine Vergrößerung des Aufsichtsrats erforderlich werden.

Das Landgericht Frankfurt hat bereits im Jahr 2015 entschieden, dass Arbeitnehmer im EU-Ausland bei dem Schwellenwert des Mitbestimmungsgesetzes zu berücksichtigen sind. Das Beschwerdeverfahren vor dem OLG Frankfurt wurde im Hinblick auf das Verfahren vor dem EuGH ausgesetzt und wird erst nach der Entscheidung des EuGH fortgeführt.

DER BETRIEB: Sollten deutsche Unternehmen – quasi präventiv – aktiv werden?

Dr. Anja Lingscheid: „Unternehmen können hierauf schon jetzt im Vorfeld mit Restrukturierungen und Umwandlungen reagieren. So finden die deutschen Mitbestimmungesetze z.B. keine Anwendung auf die SE (Europäische Aktiengesellschaft), die in Deutschland ja ohnehin eine beliebte Gesellschaftsform ist. U.a. der Kanzlerkandidat der SPD für die kommende Bundestagswahl hat im Hinblick darauf ja bereits gefordert, die Anwendung der Mitbestimmungsgesetze auf die SE auszuweiten.

Frau Dr. Lingscheid, vielen Dank für das spannende Interview.

 

Das Interview führte Viola C. Didier, RES JURA Redaktionsbüro.


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